Die Spendensammelfirma Corris hat es wieder mal geschafft. Die haben ja extra einen Medienprofi angestellt, der alle möglichen Manipulationen macht, um das nicht mehr rettbare Image der Fundraisingagentur doch noch irgendwie zu retten (die Chance, dass Elvis lebt, ist grösser). So wird bspw. ständig die Google-Rangliste manipuliert. Und zwar so, dass wenn man bspw. CORRIS KRITIK eingibt, kritische Beiträge wie z.B. von der Basler Zeitung möglichst weit unten positioniert sind (das ist mittels Hacker-Programmen absolut machbar). Und harmlose Artikel – abgesehen vom Kassensturz-Report; den lässt man schön oben (das wäre zu auffällig) – „schiebt man nach oben“. Der beste Beitrag kam aber von der Weltwoche (ich meine: „weltweit“) – nicht zuletzt, da sich der betreffende Journalist UNDERCOVER in die „Höhle des Löwen“ gewagt hat. Der Beitrag ist übrigens von mir initiiert worden, allerdings ohne die Undercover-Idee. Die hatte der Journalist (der mit seinem Unterfangen im Übrigen den klar grösseren Anteil als ich am hervorragend herausgekommenen Endprodukt hat). Ich war dann einfach der nicht erwähnte Informant/Experte im Hintergrund – ich wurde ja schon im Weltwoche-Vorgängerbeitrag erwähnt. Weil es Corris nun aber leider geschafft hat, den eben noch brisanteren Weltwoche-„Hauptbeitrag“ weitgehend zum Verschwinden zu bringen bei Google, kopiere ich ihn halt bei mir rein. Übrigens: Die im Beitrag recherchierten 1.66 Jahresspenden, die von jeder spendenden Person „abgezweigt“ werden (und sich ausserdem sowieso auf eine besonders gut gelaufene Referenzkampagne bezogen, d.h. eigentlich waren es schon damals über zwei Jahresspenden), stimmen natürlich längstens nicht mehr: Da immer weniger Leute mitmachen, erhöht sich der Anteil von Corris an den sich konstant verringernden Gesamtspendeneinnahmen stetig, denn die Kosten einer Kampagne sind ja fix. Heute sind es rund drei Jahresspenden(!), die draufgehen (diese Zahl gilt weitgehend international) – was die meisten (nicht unabhängigen) Medien nie erwähnen oder mitunter sogar falsche Zahlen publizieren (ich habe vor meiner Kooperation mit der Weltwoche zwei andere Medien angefragt, aber die wollten nicht darüber schreiben). Viele Politiker & Politikerinnen, speziell linke, sind ja bekanntlich bei Hilfsorganisationen in den Stiftungsräten/Vorständen…. Und viele Medien sind halt links-freundlich… Noch kleine Anekdote zum nun folgenden Undercover-Beitrag: Der Journalist hatte ja einen falschen Namen angegeben. Die Corris-Instruktorin nannte ihn deshalb natürlich auch jeweils so. Nur war er in einem Moment unkonzentriert, so dass er nicht auf einen ihrer Aufrufe reagiert hat. Sie nannte ihn darauf belustigt „Mr. Ich weiss nicht, wie ich heisse.“ 🙂
PS: Bitte die „Haustür-Sammlungen“ nicht vergessen; die sind sogar noch ein Stück schlimmer – siehe Magazin „Brand Eins“/Juli 2017 (ebenfalls Erfahrungsbericht).
WELTWOCHE, 3.4.2013: „SÖLDNER DES GUTEN“
Wohltätige Organisationen wie Amnesty International setzen auf die Dienste von professionellen Sammelunternehmen. Unser Redaktor hat sich von der Marktführerin anstellen lassen und gelernt, mit welchen Methoden man die Passanten um ihr Geld bringt.
Mike zeigt mir, wie es richtig geht. Er diskutiert nicht, ob 120 Franken für eine Lehrtochter viel Geld sind oder nicht. Er fordert Michelle auf, ihr Portemonnaie rauszuholen und das Münz auf die Oberfläche des Stands zu leeren: «Keine Angst, wir nehmen dir nichts weg.» Drei Zweifränkler, vier Einfrankenstücke und einige Fünfräppler kullern heraus. Mike nimmt drei Zehner und fragt: «Jetzt hast du 30 Rappen weniger. Ganz ehrlich: Würdest du es merken, dass dieses Geld fehlt?» Michelle schüttelt etwas betreten den Kopf. Mike hakt nach: «Siehst du, du würdest es nicht merken. Dreissig Rappen pro Tag, das ist für dich kein Problem.»
Michelle, 18-jährig, im ersten Lehrjahr als Coiffeuse, kapituliert. Sie will für Amnesty International spenden. Jetzt weiss ich, was Mike gemeint hat, als er mich flapsig belehrte: «Wir sind die gierigen Aasgeier.» Wir, damit meint Mike die jungen Mitarbeiter der Corris AG, zu denen auch ich seit diesem Morgen gehöre.
Jeder kennt uns, aber keiner kennt unsere Firma. Wir sind die, die auf dem Bahnhofplatz, vor der Post oder im Einkaufsgetümmel stehen und jeden, der an uns vorbeimuss, um Spenden für einen guten Zweck bitten. Wir sagen ihnen, wir seien vom WWF oder von Vier Pfoten, von Pro Infirmis oder von Pro Juventute, vom Gehörlosenbund oder eben von Amnesty International. Tatsächlich aber sind wir keine Aktivisten und keine Freiwilligen, sondern Temporärangestellte von Corris.
Die Corris AG betreibt Fundraising im Mandatsverhältnis. Zu ihren 30 Kunden gehören fast alle wohltätigen Organisationen, die in der Schweiz Rang und Namen haben. Nach eigenen Angaben beschäftigt sie 1000 temporäre und 60 Festangestellte. Wie viel Umsatz und welchen Gewinn Corris damit erwirtschaftet, darüber schweigt sich die Firma aus. Bekannt ist nur, dass sie 1995 vom Österreicher Gerhard Friesacher gegründet wurde, der auch heute noch Hauptaktionär ist.
Corris sorgt seit Jahren immer wieder für kritische Berichte. Bemängelt wurde, dass die Mitarbeiter kaum etwas über die Organisationen wüssten, die sie vertreten. Im Februar kritisierte die Konsumentensendung «Kassensturz» die Arbeitsbedingungen bei Corris. Die Löhne seien niedriger als versprochen, hiess es, die Mitarbeiter stünden unter enormem Erfolgsdruck. Mich interessiert, wie die Arbeit wirklich aussieht. Wie funktioniert das Unternehmen Corris? Mit welchen Methoden arbeiten die Leute, die da für wohltätige Zwecke sammeln? Wie ziehen sie den Leuten das Geld aus der Tasche?
Mittwoch, 15.30 Uhr: Ich wähle die Corris-Nummer. Ich nenne mich Andreas und erkläre, ich brauchte dringend einen Job. Die Dame am anderen Ende der Leitung sagt, morgen fände gleich eine Info-Veranstaltung statt. Sie schickt mir eine Einladung, sobald sie meinen Lebenslauf hat. Also lege ich mir eine neue Identität zu: Ich bin nicht mehr der Journalist Christoph Landolt, sondern Andreas Landolt, ein kinderloser und lediger Politologiestudent, der sich bisher mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Zur Sicherheit verschicke ich das Curriculum von einer anonymen E-Mail-Adresse aus.
Im grünen Bereich
Donnerstag, 9 Uhr, ein schmuckloser Sitzungsraum in Zürich-West. Die Corris-Büros befinden sich in einem Gebäude der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk 1 («Urbaner Lebensstil mit Rücksicht gegenüber Schwachen») bei der Haltestelle Bernoulli. Hier lebt das korrekte Zürich. Der grüne Nationalrat Bastien Girod bewohnte im dritten Stock einst ein WG-Zimmer. Girod hat selbst einige Zeit für Corris gearbeitet und dabei gelernt, wie man sich erfolgreich vermarktet.
Heute sind drei Bewerber gekommen, neben mir Erika, eine 26-jährige Studentin der Kunstgeschichte, die dringend Geld braucht, und Mona, eine 19-jährige Köchin in Batikhosen, die nicht mehr kochen will, aber ebenfalls etwas verdienen möchte. Geleitet wird die Veranstaltung von Sky, einer zierlichen Frau mit künstlich blonden Haaren und selbstsicherem Auftreten.
«Es ist ein Knochenjob», warnt uns Sky gleich zu Beginn. Einige Leute da draussen seien richtig unanständig. Das dürfe man nicht persönlich nehmen. «Ganz ehrlich», erklärt sie, «niemand bleibt freiwillig stehen.» Umso wichtiger sei es, dass man einen sympathischen Eindruck erwecke. «Die meisten Leute geben etwas, weil sie euch nett finden.» Wir müssen also keine guten Taten anpreisen, sondern primär uns selbst.
Sky kommt denn auch schnell auf den Punkt, «der alle am meisten interessiert»: den Lohn. Alle schauen gebannt zur Tabelle, die auf die Wand projiziert wird. Corris bezahlt pro Tag 135 Franken Grundlohn, plus 15 Franken Essensspesen. Hinzu kommt ein kompliziertes Bonussystem, das einen einzigen Anreiz setzt: möglichst viel Geld einzutreiben. Jede Spende gibt Punkte, je nach Höhe und Zahlungsrhythmus. Bei elf Punkten (entspricht fünf grösseren Spenden) ist man im Corris-Jargon im «grünen Bereich», was mit 170 Franken extra honoriert wird. Alle zwanzig Arbeitstage gibt’s einen Treuebonus von 850 Franken. Würde man hinten eine oder zwei Nullen anhängen, so denke ich mir, würde man uns «Boni-Jäger» schimpfen. Immerhin: Corris kennt bereits einen Boni-Deckel. Um Exzesse zu vermeiden, können auch Spitzenverkäufer nicht mehr als 7250 Franken pro Monat verdienen.
Sky meint, fünf Punkte pro Tag müssten drinliegen. Erika fragt, was passiert, wenn man das Ziel nicht erreicht. «Ihr werdet sehen: Wenn ihr das nicht schafft, dann macht euch der Job auch keinen Spass.»
Dann beginnt das Kürzest-Job-Assessment. Jeder soll ein Fantasieprodukt vorstellen, ich eine «Videobrille». Wir haben zwei Minuten Zeit, um Produkteigenschaften zu erfinden, dann präsentieren wir den anderen unseren Werbespot. Anschliessend werden wir nacheinander für das eigentliche Bewerbungsgespräch aufgerufen. Die Köchin fliegt raus, die Kunsthistorikerin ist eine Runde weiter. Ich komme als Letzter dran. Sky lobt meine Kreativität. Fragen zu meiner Person hat sie keine. Sie sagt, sie sehe mich gut in diesem Job.
Erika und ich bekommen einen auf drei Monate befristeten «Rahmenvertrag für Arbeit auf Abruf». Der Vertrag beinhaltet auch eine strikte Geheimhaltungspflicht gegenüber Journalisten. Ich unterschreibe dennoch. Einen Händedruck oder ein Lächeln von einer Corris-Mitarbeiterin gibt es deswegen nicht, lediglich einen Papiersack. In meinem sind ein gelbes T-Shirt und eine Regenjacke mit Amnesty-International-Logo. Auf den Sachen meiner Kollegin steht: «Helvetas». Wir sind nun sogenannte «Dialoger». Zwei von tausend, die jedes Jahr bei Corris anheuern.
«Entwicklungshilfe und so»
Inzwischen ist es Mittag, nun beginnt der Crash-Kurs. Obwohl wir zwei völlig verschiedenen Organisationen zugeteilt wurden, sitzen Erika und ich in der gleichen Schulung. Ich weiss wenig über die konkreten Projekte von Amnesty International. Meine Kollegin weiss nur, dass Helvetas «Entwicklungshilfe und so» betreibt.Doch das spielt keine Rolle, hier und heute geht es einzig um Spendenmaximierung. Ob es Bäume, Tiere, Frauen oder Kinder zu retten gilt – das Prinzip ist immer dasselbe: Wir müssen die Passanten bei ihrem schlechten Gewissen packen. «Sprich einfach von Kindersoldaten und Zwangsräumungen», empfiehlt mir Sky. «Und sag nichts gegen die Todesstrafe, das gibt nur Diskussionen.» Wenn wir mehr über Helvetas und Amnesty wissen wollten, sollten wir deren Websites besuchen.
Unsere Schulung beginnt mit einem Rollenspiel. Ich mime einen Passanten. Sky zeigt mir, wie es geht. Sie wendet ihren hundert- oder tausendfach eingeübten Standarddialog an: «Was würdest du tun, wenn plötzlich einer mit einer Waffe vor deiner Tür steht und sagt: ‹Du musst raus?›», forscht sie mein Gewissen aus und fixiert mich eindringlich. Dann will sie wissen: «Was denkst du, wie viele Leute von Zwangsvertreibungen betroffen sind?»
Ein Unmensch, wer da nicht zustimmt
Die Fragen sind rein rhetorisch, Sky lässt mir während des ganzen Gesprächs nie die Chance, etwas abzulehnen. Die Schlinge um mein Gewissen zieht sich immer enger zusammen, doch dann bietet Sky einen Ausweg: «Findest du es auch gut, dass wir uns für die Menschenrechte einsetzen?» Ein Unmensch, wer da nicht zustimmt. «Was meinst du, lohnt sich das?» Was für eine Frage. Sky hat mich mühelos eingewickelt.
Wir erhalten Merkblätter, eines mit allgemeinen Tipps («Gemeinsamkeiten herstellen, Small Talk») und eines mit «Klassischen Ausreden» samt passenden Kontern. Ein drittes Merkblatt ist dem sogenannten «Formularübergang» gewidmet – dem Moment, in dem der Passant zur Kasse gebeten wird. Der Formularübergang sei das Wichtigste am ganzen Gespräch, lernen wir, und zugleich der heikelste Moment. Falsch ist die Frage: «Möchtest du uns unterstützen?» Richtig ist: «Findest du es gut, dass wir Kindern in Not zur Seite stehen?» Es ist eine dieser geschlossenen Fragen, die kein Passant mit Nein beantworten kann. Darauf basiert die Verkaufsphilosophie.
Dann lernen wir, wie wir den Spender dazu bringen, mehr zu geben, als er eigentlich wollte. Trick Nummer eins ist die Portionierung des Jahresbeitrags in kleinere, besser verdauliche Häppchen. Zwanzig Franken pro Monat klingt nach weniger als 240 Franken im Jahr. Sky schärft uns ein: Wir sollten «nie, nie, nie» nach einem Jahresbeitrag, sondern stets nach einem Monatsbeitrag fragen. Ganz ausgebuffte Corris-Mitarbeiter wie Mike sprechen sogar von 30 Rappen pro Tag statt von 120 Franken im Jahr. Natürlich gilt das alles nur für die Dauer der Verhandlung. Am Schluss, wenn wir das Formular ausfüllen, rechnen wir die Zahl wieder auf ein Jahr hoch.
Trick Nummer zwei ist die Höhe des Mindestbeitrags. Amnesty International unterstützen darf nur, wer im Minimum 120 Franken pro Jahr (oder eben: 10 pro Monat) gibt. Sky sagt uns, dass sich tiefere Beiträge «wegen des Verwaltungsaufwands» schlicht und einfach nicht lohnten.
Trick Nummer drei ist der raffinierteste im Corris-Repertoire: Sky empfiehlt uns, nicht nach einem Betrag zu fragen, sondern eine Summe vorzuschlagen – «Sagt einfach, normalerweise gäben die Leute 40 bis 60 Franken pro Monat.» Das wären dann 480 bis 720 Franken pro Jahr. Wer weniger geben will, muss das mit seinem eigenen Gewissen aushandeln.
Die Kunstgeschichtestudentin Erika zweifelt: Geben die Leute denn wirklich so viel? Corris verweist auf ihrer Website auf Kampagnen, bei denen der durchschnittliche Jahresbeitrag bei «deutlich über 100 Franken» liegt. Das wären im «Dialoger»-Jargon rund 10 Franken pro Monat — vier- bis sechsmal weniger, als wir den Spendern vormachen sollen. Sky grinst komplizenhaft: «Die meisten geben 10 bis 40 Franken pro Monat. Aber ein bisschen flunkern ist erlaubt, es geht ja um eine gute Sache.»
Am besten direkt vom Konto abbuchen
Ganz am Schluss kommen wir auf die Sache mit dem Lastschriftverfahren (LSV). Erst wenn ein Gönner seine Adresse diktiert und sich bereiterklärt hat, eine bestimmte Summe zu spenden, fragen wir nach der Kontonummer. Dank LSV wird die Spende automatisch und regelmässig überwiesen.
Sky teilt uns ein letztes Merkblatt aus: «Argumente für die Mitgliedschaft per Lastschriftverfahren». Acht Vorzüge sind aufgeführt, darunter: «Einzahlungsscheine kosten Geld», oder: «Es können Briefsendungen eingespart werden und dadurch kann umweltfreundlicher gearbeitet werden.» Über das wichtigste aller Argumente steht dagegen kein Wort: Leute, denen automatisch Geld vom Konto abgebucht wird, spenden meist über Jahre. Nicht, weil sie zufriedenere Spender wären, sondern schlicht und einfach, weil sie den Dauerauftrag vergessen und weiterlaufen lassen. Das ist Trick Nummer vier.
Ist LSV also eine Bedingung? Oder kann jemand, der seine Kontoinformationen für sich behalten möchte, auch per Einzahlungsschein spenden? «Wenn er unbedingt will, darf er das natürlich», sagt Sky, leicht genervt. Das Reglement der Zewo, der Selbstregulierungsorganisation der NGO-Branche, will es so.
Sky erzählt uns, im «Vergleich zu TV-Spots und anderen Methoden» sei «Direct Dialog» günstig. Im Verhältnis zu den Gesamteinnahmen, die dank der treuen (oder: vergesslichen) Spender im Laufe der Jahre reinkommen, mag das stimmen. Doch wie gross ist der Aufwand, den die «Dialoger» betreiben, in absoluten Zahlen?
Sky sagt, die Auftraggeber bezahlten pro «Dialoger» und Tag 850 Franken. Diese Zahl galt lange als das bestgehütete Geheimnis der Branche. Auf Anfrage der Weltwochebestätigt Corris erstmals, dass die Auftraggeber eine Pauschale von «800 bis 850 Franken» pro eingesetzten Mitarbeiter und Tag bezahlen.
Amnesty-Sprecherin Alexandra Karle schweigt sich über die Gesamtkosten der aktuellen Kampagne aus, sagt aber, dass tausend Manntage bestellt wurden. Amnesty lässt sich den Corris-Einsatz somit gegen 850 000 Franken kosten. Diese Auslagen müssen die «Dialoger» zuerst einmal hereinbringen.
Wie lange dauert es, bis die Kampagne bezahlt ist und die ersten Spenden in ein konkretes Projekt fliessen? Corris wirbt auf ihrer Website mit einer Referenzkampagne für eine Organisation aus dem Gesundheitsbereich, bei welcher der «Break-even nach zwanzig Monaten» erreicht worden sei. Im Klartext: Die gesamten Spendeneinnahmen der ersten 1,66 Jahre gingen an Corris. Erst was später kam, floss in einen guten Zweck.
Wann die Gewinnschwelle der Amnesty-Kampagne überschritten wird, lässt sich nicht beziffern, doch wenn man die Werte der von Corris aufgeführten Referenzkampagne auf Amnesty überträgt, wird die Gewinnschwelle in 20 Monaten, Anfang 2015, erreicht. Amnesty-Sprecherin Karle will keine konkreten Zahlen nennen, bestätigt aber diese Grössenordnung. «Grundsätzlich gilt: Ab dem zweiten Jahr lohnt es sich für uns.»
Eine einjährige Spende fliesst somit komplett an Corris. Wer zwei Jahre lang einzahlt, deckt die Kosten, die durch seine Anwerbung entstanden sind, nur knapp. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass LSV-Spender bevorzugt werden. Nur dank LSV zahlt sich das System Corris für die Hilfswerke überhaupt aus. Nach einer Stunde ist die Ausbildung beendet. Mein erster Arbeitseinsatz ist für den kommenden Donnerstag geplant, wo und wann ist noch nicht klar. Am Mittwochabend davor erfahre ich Ort und Zeit per SMS.
Chef auf dem Schwanenplatz
Donnerstag, 10.45 Uhr, Schwanenplatz in Luzern. Unser Team umfasst vier «Dialoger». Neben mir, dem Neuling, sind zwei, die ihren letzten Tag haben. Geronimo, ein 20-jähriger Deutscher mit Dauerlächeln, macht den Job seit drei Monaten. Nun möchte er auf Reisen gehen, vielleicht nach Indien. Zora will studieren, vielleicht Psychologie, sie hat nach acht Tagen genug. Kopf der Truppe ist Mike, der mit den 30 Rappen. Eigentlich ist Mike gelernter Metzger, doch «da verdienst du nichts». Seit eineinhalb Jahren ist er für Corris tätig. Er hat auch schon den Green-Cross- oder Swissaid-Aktivisten gemimt. Amnesty-International-Mitglied ist keiner. Wir sind Söldner im Kampf für das Gute.
Die Leute gehen vorbei. Unser Stand, bestehend aus einem Stahlquader, in dem wir unsere Formulare verbergen, und einigen gelben Amnesty-Plakaten, wirkt wie gleissendes Sonnenlicht. Jeder, der versehentlich hingeschaut hat, wendet den Blick ab. Alle starren auf den Boden, um ja nicht angesprochen zu werden. Mike entkommen sie trotzdem nicht. «Stopp!», befiehlt er, lauter und deutlicher, als es jeder Luzerner Polizist wagen würde. Denen, die murmeln, sie hätten keine Zeit, ruft er hinterher: «Zeit hat man nie, man muss sie sich nehmen.» Jene, die sagen, sie müssten arbeiten, lässt er wissen: «Was heisst hier müssen? Weisst du, wie viele Leute gerne arbeiten würden, aber nicht können?» Mike ist der Chef auf dem Schwanenplatz.
Endlich bleibt jemand stehen, es ist Michelle, die angehende Coiffeuse. Ich muss sie nicht erst von den Menschenrechten überzeugen. Michelle will von ganzem Herzen Gutes tun. Bereitwillig nennt sie mir Name und Adresse. Erst als ich ihr sagen muss, dass die 30 Franken, die sie geben wollte, leider, leider nicht reichen, verflüchtigt sich ihre Spendierlaune. «Weisst du, ich würde wirklich gerne», fleht Michelle. «Aber ich verdiene nur 350 Franken pro Monat.» Ich fühle mich elend. Es ist nicht angenehm, eine Teenagerin, die selbst nicht genug zum Leben hat, zum Geldausgeben zu überreden. Zum Glück rettet mich Berufsidealist Mike. Der 30-Rappen-Masche hat Michelle nichts entgegenzusetzen – sie unterschreibt.
Einzahlungsscheine gibt es nicht
Hunderte von Leuten eilen über den Schwanenplatz und ignorieren uns. Als ob sie wüssten, dass wir keine Menschenrechtsaktivisten sind, sondern nur Rädchen in einer gut geschmierten Spendenmaschinerie. Sky hatte recht, es ist ein Knochenjob. Abgesehen von einem Rentner, der mit mir über die Regierung schimpfen möchte, bleibt lange niemand stehen.
Dann komme ich mit einem Mann ins Gespräch, er trägt eine Steppjacke und schaut freundlich durch die runde Nickelbrille. So stellt man sich einen Amnesty-Sympathisanten vor. Und tatsächlich, der Mann findet die Organisation gut. Er unterstützt uns gerne. Aber nur, wenn er einen Einzahlungsschein bekommt. «Ich möchte kein LSV, da verliere ich den Überblick», sagt er. Das ist gemäss Zewo sein gutes Recht. Spender, so heisst es im Reglement, müssten stets die Wahl haben, ob sie per LSV, per Einzahlungsschein oder bar bezahlen wollen. Das Zewo-Siegel trägt auch Amnesty International.
Doch wo sind die Einzahlungsscheine? Im Inneren des Stands? Mike sagt: «Wir haben keine Einzahlungsscheine, sorry.» Man habe zwar einmal Einzahlungsscheine verteilt, aber der Rücklauf sei zu klein gewesen, schiebt er zur Erklärung nach. Hier draussen gilt das Gesetz der Strasse, kein Zewo-Reglement. Der Mann will unter diesen Umständen nicht mitmachen, er wünscht uns viel Glück und geht.
Dann passiert lange nichts. «Grüezi, ich bin von Amnesty International», sage ich wieder und wieder – und schramme damit hart am Etikettenschwindel vorbei. Nur dann und wann bleibt jemand stehen. Ein junger Mann fragt gleich als Erstes: «Bist du von Corris?» Als ich bejahe, geht er weiter. Habe ich etwas falsch gemacht? Was sagen meine Kollegen, wenn sie nach ihrem Arbeitgeber gefragt werden?
Wer spendet schon für Corris?
«Ich sage immer, ich sei von Amnesty», sagt Geronimo. «Aber wenn einer direkt fragt, musst du halt die Wahrheit sagen.» Gibt es dann noch eine Chance, dass der Passant trotzdem mitmacht? Zora und Geronimo sind sich einig: «Nein, das kommt nicht vor.» Wer spendet schon für Corris?
Für die Corris AG ist es ein Dilemma: Einerseits möchte die Firma, um keine Spender abzuschrecken, ihren Namen möglichst nicht nennen. Anderseits wäre das unehrlich. Corris löst das Problem so, dass der Name möglichst diskret deklariert wird: Auf dem Stand steht das Wort «Corris» so tief, dass es nur Babys und Hunde lesen könnten. Auf meinem Mitarbeiterausweis ist der Name viermal kleiner als das Amnesty-International-Logo. Auf dem Mitgliederformular ist der Verweis auf Corris klein und quer gedruckt, so dass man den Zettel um neunzig Grad drehen müsste. Das Zewo-Logo, mit dem sich nur Amnesty, nicht aber Corris schmücken darf, ist rot und sehr viel grösser.
14 Uhr, endlich: Mein zweiter Spender geht ins Netz. Herr Tanner, ein etwa 50-jähriger Mann mit Schnauz, muss nicht lange bearbeitet werden. Er lässt sich die Sache kurz erklären und entscheidet spontan, etwas zu geben. Fünfzig Franken pro Jahr sollen es sein – das sind siebzig zu wenig. Sachte bringe ich ihm bei, dass das leider nicht geht. Warum der Mindestbeitrag so hoch ist, kann ich auch nicht erklären, deshalb erzähle ich etwas von «Verwaltungskosten». Wieder kommt mir Berufs- aktivist Mike zu Hilfe. Er spricht von zehn Franken pro Monat, was nicht viel sei. Zu meinem Erstaunen macht Tanner mit. Auch als ich ihm das Lastschriftverfahren erkläre, stellt er keine Fragen, sondern unterschreibt, nimmt die Quittung und bedankt sich.
Um 15 Uhr ist die Hälfte des Sammeltages vorbei. Zu diesem Zeitpunkt haben Mike und ich je zwei Spender gewonnen, die anderen beiden null. Zusammen haben wir Jahresbeiträge von knapp 500 Franken reingeholt. Wenn wir bis am Abend so weitermachen, dauert es drei Jahre, bis die Kosten, die wir vier an diesem Tag verursacht haben, bezahlt sind. Erst ab 2016 fliesst das Geld in die Menschenrechtsaktivitäten von Amnesty. Und das auch nur, wenn unsere Spender so lange einzahlen.
Als ich nach meinem ersten und letzten Arbeitstag für Corris die Amnesty-Jacke ausziehe, habe ich zwiespältige Gefühle. Mein Einsatz war erfolgreich, gewiss. Zwei ausgefüllte Formulare liegen in meiner Tasche. Eigentlich müsste ich mich freuen, dass ich zwei grossherzige Leute dazu gebracht habe, etwas für die Menschenrechte zu tun. Aber habe ich nicht vielmehr zwei gutgläubige Leute übers Ohr gehauen?
«Mindestens neunzig Prozent»
Habe ich die Welt besser gemacht oder vor allem den Besitzer der Corris AG reicher? Glauben Coiffeuse-Stiftin Michelle und Herr Tanner, dass sie es mit Idealisten zu tun hatten, die freiwillig für eine gute Sache auf die Strasse gingen? Haben sie den Eindruck, dass wir tatsächlich von Amnesty International sind? Zurück in der Redaktion rufe ich die beiden an, zur Qualitätssicherung quasi.
Michelle sagt, sie habe sich «schon ein bisschen überredet gefühlt». Normalerweise laufe sie vor Leuten wie mir davon. «Ich weiss, dass ich noch zu wenig Persönlichkeit habe, um nein zu sagen.» Bei mir habe sie aber das Gefühl gehabt, dass mein Idealismus echt sei. Und sie habe sich gedacht, es sei für einen guten Zweck. Michelle ist davon ausgegangen, dass wir «ein bisschen etwas» verdienen.
Herr Tanner war mit unserem Gespräch zufrieden. Wie lange er Amnesty-Gönner bleiben will, weiss er noch nicht, vielleicht ein oder zwei Jahre. Was denkt er, wie viel Geld dann dorthin geht, wo es hingehört? Herr Tanner schätzt, dass nach Abzug der Verwaltungskosten «mindestens neunzig Prozent» in Menschenrechtsaktivitäten fliessen. Mich hat er für einen Studenten gehalten, der «vielleicht ein Sackgeld» dazuverdient, der aber direkt für Amnesty arbeitet.
Als ich Herrn Tanner sage, dass von seinen 240 Franken, die er über zwei Jahre spenden wollte, schätzungsweise 40 Franken an Amnesty gehen werden und dass ich in Wirklichkeit ein provisionsgetriebener Angestellter einer profitorientierten Firma bin, findet Herr Tanner das «nicht gut». Er bittet mich, sein Formular in den Papierkorb zu werfen.
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